Das soziale Aids: Stigmatisierung und Diskriminierung von Menschen mit HIV und Aids

Die Stigmatisierung von Menschen mit HIV ist eine unausweichliche Folge individueller und gesamtgesellschaftlicher Ängste und Phantasien. Dies führt oft zu Diskriminierung. Einer der Gründe dafür liegt in dem (individuellen und kollektiven) Wunsch, sich durch die Vermeidung des Umgangs mit HIV-positiven Menschen, die (soziale) Isolation von HIV-Infizierten, wirksam vor einer Ansteckung schützen zu können. 

Ein anderer Grund für die Stigmatisierung ist die Ausgrenzung und Abwertung gesellschaftlich und moralisch unerwünschten Verhaltens, beispielsweise Homosexualität, Promiskuität, Drogenkonsum etc. Diese Ausgrenzung ermöglicht es, gesellschaftlich definierte Werte und Moralvorstellungen zu bewahren. Alle negativen Faktoren und Assoziationen können so auf jene Gruppen projiziert werden, die als Außenseiter angesehen werden: die Menschen mit HIV, die Schwulen, die Junkies, die Schlampen … Folgerichtig wird der Kontakt mit Angehörigen dieser Gruppen vermieden oder sie werden ausgegrenzt, weil sie eine als real wahrgenommene ständige Bedrohung für die eigenen Werte darstellen.

Demzufolge gedeihen Vorurteile und irrationale Ängste und bilden somit den Nährboden für die Diskriminierung und Stigmatisierung von Menschen mit HIV und Aids. Ihnen wird häufig Unzuverlässigkeit und mangelnde Verantwortung im Umgang mit sich selbst und auch mit anderen vorgeworfen. Wären sie zuverlässig und verantwortungsbewusst, hätten sie schließlich kein HIV. Sie sind „Sterbende auf Urlaub“, also ständig krank und nicht leistungsfähig und sind sowieso bald weg von der Bildfläche. Ihnen wird also auch eine Zukunft verwehrt. Sie sind gefährlich – weil hochinfektiös – und sie erlauben sich dann auch noch, Sex zu haben.

Dies scheint nun vielleicht überspitzt oder zynisch, leider entspricht dieses Denken aber immer noch der Realität. Wenn etwa eine Röntgenassistentin in einer Universitätsklinik in Deutschland nach einer Röntgenaufnahme eines HIV-Positiven ängstlich und aufgeregt in der HIV-Ambulanz der Uniklinik anruft und fragt, was sie nun mit der Liege machen muss, auf der der HIV-Positive gelegen hat. Oder wenn der Zahnarzt der HIV-Patientin die Behandlung verweigert mit der Begründung, man habe wegen der hohen Infektiosität und der Hygienevorschriften keine entsprechenden Kapazitäten und Räumlichkeiten. Wenn Menschen mit HIV zum „Schutz“ der Kolleginnen oder Kunden gekündigt wird. Wenn HIV-positive Menschen strafrechtlich sanktioniert werden können, wenn sie einvernehmlichen Sex mit HIV-Negativen haben. Die Tabuisierung der Erkrankung in der Familie, das Getratsche auf der Arbeit, im Freundeskreis, im Dorf, im Internet, das Sich-Abwenden von Freunden und Freundinnen, Partnern oder Partnerinnen … die Liste von Situationen, in denen Diskriminierung und Stigmatisierung stattfindet ließe sich ohne weiteres fortführen.

Mehrfach stigmatisiert 

Viele Menschen mit HIV erleben zudem Mehrfachstigmatisierungen, etwa als Menschen mit HIV und als Menschen mit Migrationshintergrund. Diese beiden Stigmatisierungen haben keinen inhaltlichen Bezug zueinander, weshalb sie als Mehrfachstigmatisierungen bezeichnet werden. Oder sich überlagernde Stigmatisierungen – als schwule Männer und als HIV-Infizierte. Hier wird mit der Assoziation „Aids gleich Schwulenseuche“ Sexualität und Krankheit gleichgesetzt.

Als weitere Folge verinnerlichen viele HIV-Positive diese negativen Zuschreibungen und übernehmen sie für sich selbst. Sie beginnen, sich so zu sehen, zu fühlen, wie sie von außen gesehen und beschrieben werden. Selbststigmatisierung hat ausgesprochen ungünstige Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und Selbstbild und erschwert massiv den Umgang mit der eigenen HIV-Infektion und wirkt sich negativ auf die Gesundheit aus.

Gibt es Auswege aus diesem Dilemma?

Menschen mit HIV wissen heute, dass die HIV-Infektion gut behandelbar ist. Dank wirksamer Therapien können sie oft mit einem langen Leben und einer stabilen Gesundheit rechnen. Sie wissen um den Effekt, dass bei erfolgreicher Therapie (Viruslast unter der Nachweisgrenze) HIV nicht übertragen werden kann. Die Infektion hat einen Bedeutungswandel erfahren und das Selbstbild von Menschen verändert sich.

Man sollte meinen, dass somit auch die Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von HIV und Aids abnehmen müsse. Dem ist aber nicht so.

Deshalb müssen die berechtigten Forderungen nach Antidiskriminierung und Entstigmatisierung seitens positiver Menschen, Selbsthilfeorganisationen und Aidshilfen mit wirksamen Strategien von Stigma-Management flankiert werden.

Stigma-Management: schwierig aber machbar!

Gelungenes Stigma-Management bedeutet, dass das Stigma, in diesem Falle HIV, als Teil der eigenen Person und Persönlichkeit akzeptiert und positiv umgewertet werden kann. So sollte HIV nicht mehr als beschämend, beschädigend und entwertend erlebt, sondern zu einem wertneutralen oder positiven Teil der eigenen Person gewandelt und HIV vom Defizit zur Ressource gemacht werden.

Die Schwulen- und Lesbenbewegung der 1970er-Jahre hat für eine bestimmte Zeit und in gewisser Weise vorgemacht, wie dies geht, als sie das Schimpfwort „schwul“ umgewertet und zu einer positiven und Selbstbewusstsein vermittelnden Selbstbezeichnung genutzt hat. Im Falle von HIV mag dies nicht einfach sein, stellt sich hierbei auch die Frage, wie identitätsstiftend die HIV-Infektion erlebt wird.

Erfolgreiches Stigma-Management steht der Präventionsarbeit nicht entgegen. So ist die Verhinderung von Neuinfektionen nicht das zentrale Ziel von Aidshilfearbeit, sondern vielmehr bewusst gelebtes, selbstbestimmtes und informiertes Handeln. Sei es beim Sex, sei es beim Drogenkonsum oder in anderen Bereichen.

Im Hinblick auf eine realistische Einschätzung von Infektionswahrscheinlichkeiten in allen Lebensbereichen kommt die Vermittlung differenzierter und zeitgemäßer Bilder von HIV und dem Leben mit HIV hinzu. Das erspart HIV-Positiven nicht, sich von ihrer Selbststigmatisierung zu befreien.

Die Forderungen der Menschen mit HIV und Aids nach zeitgemäßen Bildern, die sie als leistungsfähige, vertrauenswürdige und verlässliche, selbstverständlich auch kreditwürdige und versicherungswürdige Mitglieder der Gesellschaft mit einer normalen Lebenserwartung darstellen, ist nicht nur menschlich nachvollziehbar, sondern auch realistisch. Diese Bilder werden auch Auswirkung auf die Prävention haben.

Wenn Angst vor Stigmatisierung als Präventionsmotivation wegfallen wird, wird das eigentliche Ziel von Prävention, nämlich informiertes und selbstbestimmtes Handeln, in den Vordergrund rücken. Also nicht: „Wenn du nicht stigmatisiert werden willst, musst du eben sehen, dass du negativ bleibst!“ Sondern: „Wenn du negativ bleiben willst, musst du auch was dafür tun!

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